Phillips Multiplane 1 (1904)von Jürgen Wagenknecht (1:72 Eigenbau)Zum Vorbild
Horatio Phillips führte schon sehr früh Studien über Tragflächen aus und hatte auch verschiedene Patente (1884 und 1891) über dieses Thema. Er fand heraus, wenn die Oberseite des Flügels eine größere Krümmung besitzt als die Unterseite, der Flügel einen größeren Auftrieb aufweist. Er baute verschiedene Modelle und Maschinen in natürlicher Größe, die analog einer modernen Zentrifuge auf einem dampfbetriebenen Drehtisch getestet wurden.
1904 baute er seinen ersten manntragenden Mehrdecker, dem hier im Modell vorgestellten Zwanzigfachdecker. Angetrieben wurde die Maschine von einem 22 PS Benzinmotor, der ebenfalls von Phillips stammte. Die Tragflächen erzeugten eine gute Auftriebskraft, die Abhebegeschwindigkeit lag bei ca. 55 km/h. Allerdings war die Längsstabilität sehr schlecht. In der Literatur ist man sich nicht ganz sicher, ob der Phillips Multiplane 1 je geflogen ist, aber dort, wo dieses nicht als sicher angegeben ist, wird trotzdem immer auf die schlechte Längsstabilität verwiesen, die man ja eigentlich nur über einen Flug nachweisen kann.
1907 war Phillips dann aber nachweislich mit einer seiner Konstruktionen erfolgreich. Mit seinem Multiplane 2, der über 200 Flügel verfügte, aufgeteilt in vier Rahmen mit je 50 Flügeln, konnte eine Distanz von 155 m erzielt werden. Dieser Flug galt als der erste in England ausgeführte Motorflug.
Noch ein Hinweis zur Namensgebung: Meistens werden die Maschinen von Phillips vom ersten manntragenden Multiplane durchnummeriert, es gibt aber auch Quellen, die mit seinen Maschinen in natürlicher Größe die Durchnummerierung starten. Deshalb ist die Bezeichnung Multiplane 1 nicht eindeutig. Quellen: Kenneth Munson: Flugzeuge der Jahre 1903 - 1914; Enzo Angelucci: Flugzeuge - Von den Anfängen bis zum 1. Weltkrieg; Michael H. Goodall & Albert E. Tagg: British Aircraft before the Great War Das Modell
Die Phillips Multiplane 1 wird in praktisch allen Büchern über die Anfangszeit der Fliegerei erwähnt, so dass ich davon ausging, recht gute Basisdaten zu finden, zumal dort auch Dreiseitenrisse und Maßangaben zu finden sind. Leider machte sich nach Vergleich mit dem einzig existierenden Originalfoto der Maschine recht schnell Ernüchterung breit, denn ausnahmslos alle Dreiseitenrisse sind falsch! Ich habe mich lange gefragt, wie es sein kann, dass das existierende Originalfoto so komplett ignoriert wird, bis ich auf die Lösung gekommen bin.
Für den Film „Die tollkühnen Männer in Ihren fliegenden Kisten“ wurden viele historische Maschinen nachgebaut und auch für den Film geflogen. Nur bei dem Kitchen-Doppeldecker, dem Urvater des bereits vorgestellten Lee-Richards Annular Monoplane wurde beim Flug getrickst, da nicht flugfähig, was man bei der damaligen Tricktechnik auch zweifelsfrei erkennt. Das Phillips Multiplane fliegt auch in dem Film einen „Langstreckenflug“ (Originalzitat: „Jedenfalls nannte man das damals so“). Dafür wurde das historische Vorbild verändert. Dieser Nachbau ist dann aber die Quelle aller heutigen Dreiseitenrisse in der gängigen Literatur geworden.
Die auffallendsten Unterschiede vom Original zum Nachbau sind:
Somit musste ich mir sehr genau überlegen, welchen Quellen man in welchen Bereichen glauben kann. Die Basis meines Nachbaus ist natürlich das Originalfoto. Bei der Spannweite der Flügel und des Höhenleitwerks sowie des Seitenleitwerks habe ich mich an den Dreiseitenrissen, bzw. den Literaturangaben orientiert, die Form des Höhenleitwerks dann wieder nach dem Originalfoto. Bezüglich des Motors konnte ich mich an eine 3D-Zeichnung im Web halten, bei der zwar der Rumpf nicht korrekt, aber der gesamte Vorbau kompatibel mit dem Originalfoto ist. Somit hatte ich auch eine Vorlage für die linke Seite des Motors.
Für die Flügel verwendete ich Laminierfolie, in die an den Rippenpositionen 0,15 mm Angelgarn eingelegt wurde. Natürlich habe ich nicht jeden Flügel einzeln bearbeitet, sondern in einem längeren Streifen das Garn eingelegt, an beiden Enden mit Sekundenkleber fixiert und dann laminiert. Danach wurde der Streifen um ein Metallrohr gebunden und im heißen Wasser dauerhaft gebogen. Anschließend wurden die Flügel mit einer Papierschneidemaschine in der richtigen Tiefe von dem Streifen geschnitten. Den Streifen sollte man nicht zu lang machen, denn dann reicht möglicherweise die Spannkraft der beiden endseitigen Klebestellen nicht aus und das Garn verläuft beim Laminierprozess. So ist es mir beim ersten Versuch ergangen, von dem ich keinen einzigen Flügel verwenden konnte, da grundsätzlich einer der elf Garnfäden verlaufen war. Mit zwei deutlich kürzeren Streifen hat es dann gut funktioniert, es blieben sogar ein paar Restflügel übrig.
Um die Flügel im richtigen Abstand zueinander zu positionieren, baute ich eine einfache Lehre aus Evergreenprofilen und Draht. Über die Dicke der Profile und die Drahtdicke lassen sich die Abstände recht gut einhalten. Dazu wurden immer zwei Drähte in eine Styroporplatte als Anschlag gesteckt, ein Profil, zwei Drähte etc.. In den Bereich zwischen den Drähten wurde jeweils ein Flügel eingelegt und dann die Flügelstreben mit Sekundenkleber befestigt. Leider hatte ich die Flügel gegen seitliches Verrutschen nicht fixiert. Erst wollte der Sekundenkleber nicht halten, aber sobald ein Flügel verrutschte hielt er bombenfest. Murphys Gesetz halt.
Das gesamte Flugzeug wurde neben dem beschriebenen Flügelaufbau komplett aus Evergreenprofilen in verschiedenen Größen, Plastic Sheet und Draht aufgebaut. Zudem verwendete ich noch ein paar fotogeätzte Teile von Part, so z. B. die Speichenräder, den Sitz, die Propellernabe. Diese PE-Sätze habe ich mir mal zugelegt und kommen immer mal wieder bei diversen Modellen zum Einsatz. Die Anschaffung hat sich auf jeden Fall gelohnt. So kamen die Räder schon bei meinen Wong‘s zum Einsatz und eine Propellernabe verbessert meine Blackburn.
Eine Vorlage für die Verspannung des Modells war auch nicht ganz einfach zu bekommen. Die Dreiseitenrisse waren vollkommen untauglich, zumal diese auch voneinander abweichen. Hier war es sehr positiv, dass das Originalfoto in einem meiner Bücher und im Web mit unterschiedlichen Kontrasten wiedergegeben wurde. Im Buch konnte man oben am Flügel Ansätze einer Verspannung ausmachen. Diese habe ich auf dem Foto mit Lineal verlängert und kam zu voraussichtlichen Endpunkten. Bei dem Foto im Web, wo ein stärkerer Kontrast vorhanden ist, kann man keine Ansätze einer Verspannung im oberen Flügelbereich erkennen, dafür aber an den mutmaßlichen Endpunkten. Ob es sich dabei jetzt um die komplette Verspannung handelt, kann ich nicht sicher sagen, aber die von mir durchgeführte Verspannung war mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit so vorhanden.
Bemalt wurde wie üblich mit Revell AquaColor und Ölfarbe für die Maserung der Holzteile. Für die Verspannung wieder dünner Draht, wobei dieser bei den Makrofotos und den sehr geringen Abmessungen des Modells jetzt wirklich zu dick wirkt. Sieht in der Vitrine glücklicherweise deutlich besser aus.
Der Bau des Modells hat viel Spaß gemacht und ging deutlich leichter von der Hand, als zuvor angenommen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass man sich vorher genau überlegt, wie man etwas ausführen möchte und sich nicht über Unzulänglichkeiten eines Bausatzes ärgern muss. Somit ist meine Sammlung um ein weiteres seltenes Modell bereichert. Betrachtet man das Modell aus einem dem Originalfoto entsprechenden Blickwinkel, scheinen die Proportionen trotz der sehr widersprüchlichen Datenbasis gut getroffen worden zu sein. Jürgen Wagenknecht Publiziert am 08. März 2021 © 2001-2024 Modellversium Modellbau Magazin | Impressum | Links |